Montag, 22. Oktober 2012

Gedicht des Monats - Wislawa Szymborska

Es gibt eine neue Rubrik - Gedicht des Monats. Letztes Wochenende in Berlin gesehen, gelesen...und für GUT befunden!

DAS SCHREIBEN EINES LEBENSLAUFS

Was ist zu tun?
Ein Antrag ist einzureichen,
dazu ein Lebenslauf.

Ungeachtet der Länge des Lebens
hat der Lebenslauf kurz zu sein.

Geboten sind Bündigkeit und eine Auswahl von Fakten.
Die Landschaften sind durch Anschriften zu ersetzen,
labile Erinnerungen durch konstante Daten.

Von allen Lieben genügt die eheliche,
nur die geborenen Kinder zählen.

Wichtig ist, wer dich kennt, nicht, wen du kennst.
Reisen, nur die ins Ausland.
Zugehörig wozu, aber ohne weshalb.
Preise, ohne wofür.

Schreibe, als hättest du niemals mit dir gesprochen
und dich von weitem gemieden.

Umgehe mit Schweigen Hunde, Katzen und Vögel,
den Erinnerungskleinkram, Freunde und Träume.

Es gilt der Preis, nicht der Wert,
der Titel, nicht dessen Inhalt,
die Schuhgröße, nicht wo
der Mensch, für den man dich hält, hingeht.

Dazu eine Fotografie mit entblößtem Ohr.
Wichtig ist seine Form, nicht, was es hört.
Was es hört.
Das Knirschen des Papierwolfs.
  
Wislawa Szymborska

Geschrieben hat dieses Gedicht die einflussreiche Dichterin, Gastronomie-Kritikerin, literarische Königin der Ironie und Spezialistin für feine Humorspitzen: Wisława Szymborska. 

Literaturnobelpreisträgerin Wislawa Szymborska war strikt gegen Interviews. Alles, was es über sie zu sagen gäbe, würde schon in ihren Gedichten stecken, sagte sie. Zurückgezogen lebte sie in Krakau, liebte ihre Stadt und führte dort ein ruhiges Leben. Nach der Verleihung des Nobelpreis im Jahre 1996 für ihr Werk, das ironisch-präzise den historischen und biologischen Zusammenhang in Fragmenten menschlicher Wirklichkeit hervortreten lässt, brauchte sie viel Zeit, sich mit dem Gedanken anzufreunden, sie sei jetzt eine Persönlichkeit, für die sich die Öffentlichkeit interessiert.
Sie mied Auftritte aller Art und schützte ihre Einsamkeit, die, wie sie meinte, grundlegende Bedingung für ihre Kunst, das Schreiben, sei.


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